Kutscherhaus in Viersen
Denkmalbeschreibung:
Geschichte
Das ehemalige Kutscherhaus befindet sich versteckt auf einem Grundstück
im Winkel zwischen Haupt- und Heierstraße, hinter dem Wohn- und Geschäftshaus
Hauptstraße 137-139.
Laut Bauschein im Stadtarchiv Viersen wurde die „Remise mit
Pferdestall" 1903 für den Bauherrn Peter Kaiser errichtet. Dieser
besaß zu dieser Zeit das Wohnhaus Hauptstraße 135, dem das
Kutscherhaus zugehörte. Es wurde im bzw. kurz nach dem Zweiten
Weltkrieg zerstört. Peter Kaiser war ein Bruder von Kommerzienrat Josef
Kaiser. Nach dem Tod des Vaters Heinrich Kaiser 1890 leiteten die beiden
einige Jahre zusammen die Firma Kaiser`s Kaffeegeschäft. 1906/07 ist
Peter Kaiser wohl gestorben. Aus diesem Jahre sind
Erbschaftsangelegenheiten in seiner Sache bekannt, und sein Besitz wird
zwangsversteigert. Das Haus Hauptstraße 135 wird samt Grundstück und
Kutscherhaus von der Stadt übernommen.
Die Geschichte dieses Anwesens ist jedoch mehr als mit Peter Kaiser mit
der Industriellenfamilie Greef verbunden.
Friedrich Wilhelm Greef (1814-1900) gründete 1837 in seinem Geburtsort
Süchteln eine Sammet- und Seidenmanufaktur. Später wechselte das
Unternehmen nach Viersen und wurde dort zu einem der bedeutendsten
Betriebe. Für die 1860er Jahre stellt Jochem Ulrich fest: „F.W. Greef
stand mit 4000 bis 5000 Talern Gewerbeeinnahmen im Jahr einer Reihe der
bedeutenderen Krefelder Seidenfabrikanten mit seinen Geschäftserträgen
nicht nach" (S.46). Um 1880 gelang Greef die rechtzeitige
energische Umstellung der Fabrikation auf mechanische Webstühle. „Greef
wurde für eine Zeit führend in der Mechanisierung des Viersener Samt-
und Seidengewerbes. Er allein hatte fast ein Drittel des Viersener
Bestandes an Maschinenstühlen 1884 in seiner Fabrik stehen"
(Ulrich S.67). Er engagierte sich auch über Viersen hinaus, so war er
u. a. einer der drei Direktoren der Gladbacher Feuerversicherungs
Aktiengesellschaft; 1865 war er einer von 12 Gründern der Viersener
Actiengesellschaft für Spinnerei und Weberei und erster Vorsitzender
des Verwaltungsrates (Ulrich S.56 u. 69). Wie seinerzeit selbstverständlich
war er auch Stadtverordneter, 1888 Zweiter Beigeordneter der Stadt
Viersen.
Ein herrschaftliches Wohnhaus für sich und seine Familie ließ Greef
wohl in der 1860er Jahren in spätklassizistischen Formen an der
Hauptstraße erbauen (die Angabe bei Ulrich S.262 - zwischen 1820 und
1847 - widerspricht den Angaben im Stadtbauplan von 1860). Um 1875
bereits entsteht an der Gladbacher Straße eine neue Villa für seinen
Sohn Friedrich Wilhelm Greef jun., von der nur noch die zugehörige
Allee, Wirtschaftsgebäude/Remisen und Gartengelände erhalten sind.
Peter Kaiser erwarb das herrschaftliche Wohnhaus an der Hauptstraße
wohl nach dem Tod von Friedrich Wilhelm Greef (1900). Nach der
Zwangsversteigerung und dem Erwerb durch die Stadt zieht in dem Gebäude
1907 die Städtische Höhere Mädchenschule (ab 1910 Lyzeum) ein. Spätestens
jetzt wird also auch hier eine für Viersen typische Entwicklung
nachvollzogen, nämlich dass die ehemals an der Hauptstraße
residierenden Unternehmer der frühen Industrialisierung Viersens nach
und nach in Nebenstraßen oder weiter außerhalb liegende Lagen
abwandern und sich die Hauptstraße im Verstädterungsprozess bis etwa
1910 zu einer Geschäftsstraße wandelt. Ulrich (S.293-95) hält dazu
fest, das 1911 an der Hauptstraße aus der Schicht der finanzstarken
Kaufleute allein noch die Witwe Preyer wohnte.
Das Kutscherhaus ist der letzte Zeuge dieses ehemals
hochherrschaftlichen Anwesens.
Beschreibung
Das im Grunde zweigeschossige Gebäude ist im rechten Winkel zur
Bebauung an der Hauptstraße angeordnet, so dass es mit einer Längsseite
den ehemaligen Garten begleitet. Die Zuwegung erfolgte wohl schon immer
so wie heute von der Heierstraße aus, zu der hin durch zwei kurze Flügel
ein Hof ausgebildet ist.
Hinsichtlich der Fassadengestaltung zeigt das Kutscherhaus zwei
Gesichter:
Zum Garten bietet sich eine klassizistische Gestaltung dar, mit hellem
(weißen) Bänderputz und Lisenen. Zwei seitliche flache Dreiecks-Giebel
lockern die Traufständigkeit auf. Giebelfläche und die
darunterliegende Obergeschoss-Wandfläche sind jeweils durch ein großes
Relief mit einer Reiterszene vor Landschaft geschmückt. Beide Reiter
tragen antike Tracht, der rechte, sich im Ritt aufrecht zurückwendend,
ist mit geschulterter Lanze dargestellt, der linke schwingt über Kopf
eine Axt, während sein Pferd sich aufbäumt. Ob hier konkrete Szenen
antiker Geschichte oder Mythologie wiedergegeben sind, muss zum gegenwärtigen
Zeitpunkt offen bleiben. Neben den unregelmäßig verteilten Fenster-
und Türöffnungen akzentuiert eine niedrige Tränke die linke Hälfte
der Gartenseite, überfangen von einem Rundbogen mit Glimmersteinen, die
an Grottenarchitekturen der Gartenkunst erinnern. Durch die rechte Tür
betritt man eine Halle mit Fliesenboden, Rundstütze und Unterzugdecke -
wahrscheinlich der ehemalige Pferdestall.
Der zur Einfahrt gerichtete Hof zeigt eine ganz andere
Fassadengestaltung, nämlich eine Backstein-Schaufachwerk-Gliederung in
neubarocker Formensprache. Über einem backsteinernen Erdgeschoss ist
das Obergeschoss überwiegend in der Art eines Mansarddaches verkleidet,
nur im westlichen Flügel mit Fachwerk und einem in die Ecke gesetzten
Erker ausgezeichnet. Dieser Flügel enthält einen Risalit mit einem großen,
segmentbogig geöffneten Raum im Erdgeschoss, wohl die ehemalige
Kutschenremise. Über ihr ist im Obergeschoss ein weiteres Relief mit
bewegten Pferdeköpfen vor einem strahlenartig ausgestalteten
Hintergrund angeordnet, darüber ein vierteiliges Rundbogenfenster. Ein
geschweifter Giebel schließt den gestalterisch solcherart
herausgehobenen Risalit ab. Auf allen drei Seiten wird das Erdgeschoss
durch zu Zweier-, Dreier- oder Vierergruppen gekoppelte, hochrechteckige
Fenster mit Segmentbogen gegliedert. Rechts ist in der hinteren Längswand
die Vermauerung einer weiteren Toröffnung erkennbar, ehemals eventuell
ein zweiter Wagenunterstand. Die Fenster im mansarddachartigen
Obergeschoss sind als segmentbogige Dachgauben ausgeführt; der kurze östliche
Flügel besitzt an ihrer Stelle ein Zwerchhaus mit flach geschweiftem
Giebel.
Das Innere des Gebäudes präsentierte sich bei Besichtigung aufgrund
langen Leerstandes in verwahrlostem Zustand. Wesentliche historische
Elemente Ausstattungsstücke sind aber dennoch erhalten. Der
Eingangsbereich des Erdgeschosses besitzt seinen ursprünglichen
Fliesenboden und führt zur ebenfalls originalen einläufigen Treppe mit
gedrechselten, z. T. kannelierten Stäben und entsprechendem
schmuckvollen Anfangspfosten. Im Obergeschoss war ehemals wohl die
Kutscherwohnung untergebracht. Außer Grundriss, alten Rahmenfüllungstüren,
Wandschränken und einigen alten Fenstern (mit kleinteilig gesprossten
Oberlichtern) ist in einem Zimmer auch noch eine hölzerne Wandvertäfelung
erhalten.
Architekturgeschichtliche Würdigung
Die Bauaufgabe Kutscherhaus befand sich 1903 schon fast an ihrem Ende.
Obwohl im „Handbuch der Architektur" noch 1913 dem Thema ein
eigenes Kapitel gewidmet wurde, kann doch (von Sonderfällen abgesehen)
spätestens nach dem Ersten Weltkrieg von einer Verdrängung durch die
„Motorgarage" für Automobile ausgegangen werden.
Als Teil einer Gesamtanlage aus Wohnhaus, Garten/Hoffläche und anderen
Wirtschaftsgebäuden war das Kutscherhaus eine herrschaftliche
Bauaufgabe. Der Baukörper wurde dabei zumeist an historischen
Vorbildern wie Remisen oder Wirtschaftsgebäuden von Gutsanlagen
orientiert, häufig findet sich ganz oder teilweise Schaufachwerk als
angemessene Kennzeichnung einer untergeordneten und zugleich im weiteren
Sinne landwirtschaftlichen Nutzung (Pferdestall). In soweit entspricht
die der Heierstraße zugewandte Hofseite des Kutscherhauses mit ihrer
Mansarddachanlehnung, Erker und Zierfachwerk geläufigen anderen
Beispielen aus dieser Zeit.
Äußerst ungewöhnlich sind jedoch die klassizistische Gestaltung der
Gartenseite und vor allem die aufwendige Ausstattung mit Reiter- und
Pferdereliefs. Möglicherweise ist die Fassadengestaltung auf ein Bemühen
um Anpassung an das ebenfalls spätklassizistische Wohnhaus zurückzuführen
(ein Foto der Gartenansicht der Villa in der u. a. Bauakte im
Stadtarchiv Viersen). Die Reliefs zeugen eindeutig von herausragendem
Gestaltungswillen und Anspruchsniveau der Bauherren auch bei dieser
untergeordneten Bauaufgabe. Die stark plastisch herausgearbeiteten
Reiter-Darstellungen lassen an Vorlagen der Renaissance denken; die
Motive sind traditionell mit Herrschern und Kriegern verbundene
Statussymbole, im profanen Umfeld einer Fabrikantenvilla zeugen sie von
der Aneignung klassischer Ikonographie durch neue Oberschichten. Im
Mittelpunkt steht aber natürlich das Pferd, was auf der
„profaneren" Hofseite deutlich wird, deren Relief nur noch
Pferdeköpfe ohne ikonographische Überhöhung zeigt. Im Gegenteil
stehen diese dort allein vor einem strahlenkranzartigen Hintergrund, der
ein wenig an gleichzeitige Strahlen- und Sonnendarstellungen aus
symbolistischem oder gar lebensreformerischem Umfeld erinnert, hier
jedoch nur dekorativen Charakter hat.
Das ehemalige Kutscherhaus des Anwesens Kaiser (ehemals Greef) ist, nach
Zerstörung des zugehörigen Wohnhauses und z.B. auch des Hauses Preyer
einer der letzten, wenn auch versteckten Reste jener Frühphase der städtischen
Entwicklung Viersens Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, als die
Hauptstraße noch ein bevorzugtes Wohngebiet der neuen
Unternehmer-Oberschicht war. Es zeugt zudem vom herrschaftlichen
Lebensstil der Jahrhundertwende. Es ist daher bedeutend für Viersen.
Wegen des im Wesentlichen originalen Erhaltungszustandes seiner qualitätvollen
und teilweise ungewöhnlichen Gestaltung besteht an der Erhaltung und
Nutzung aus wissenschaftlichen, hier architektur- und
sozialgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse. Es ist daher
ein Baudenkmal gemäß § 2 (1) Denkmalschutzgesetz.