Gutachterliche Stellungnahme zum Denkmalbereich
"Kolpingsiedlung" in Neuss
Die in den Grenzen des vorgesehenen Denkmalbereichs liegende Kolpingsiedlung in Neuss steht als Zeugnis früher genossenschaftlicher Siedlungen. Um die Jahrhundertwende begann in Neuss durch die Ansiedlung neuer Industrien und dem damit bedingten Zuzug von Facharbeitern ein stetiges Anwachsen der Bevölkerung. Damit war gleichzeitig ein andauernder und steigender Bedarf an Wohnraum verbunden. Durch das Genossenschaftsgesetz von 1889 wurde die beschränkte Haftung für Genossenschaften zugelassen. Dadurch wurden zinsgünstige Darlehen der Versicherungsgesellschaften sowie die Kapitalbeschaffung erleichtert. Die Gründung von Gemeinnützigen Baugenossenschaften nahm daraufhin überall zu. In Neuss setzte diese Entwicklung bereits 1891 mit der Gründung der Neusser Gemeinnützigen Bauverein AG ein. Am 05. Juli 1901 wurde auf Initiative des Arbeiter-, Gesellen- und Piusvereins mit dem Kapital des Vereins der katholischen Kaufleute und der Feuerversicherungsgesellschaft Rheinland die Gemeinnützige Arbeiterwohnungsbau Genossenschaft GmbH (AWG) gegründet. Ziel der Genossenschaft war der Erwerb von Grundstücken sowie Ankauf, Bau und Vermietung von preiswerten Arbeiterwohnungen. Die Gründer der Baugenossenschaft waren überzeugt, dass Haus und Garten als Einzeleigentum in die Hände der Arbeiter, der Mitglieder der Baugenossenschaften, übergehen sollten, um einen Ausgleich und eine Milderung der vorhandenen Klassenunterschiede zu erreichen. Die Neusser Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft bringt ihre Aufgabe in § 2 ihrer Satzung klar zum Ausdruck: „Gegenstand des Unternehmens ist: Die Erwerbung von Grundstücken, die Herstellung, den Ankauf und die Vermietung von Arbeiterhäusern, welche nach den Erfordernissen der Gesundheitslehre und der Sittlichkeit gebaut sind, insbesondere Ermöglichung des allmählichen Erwerbs von Einzelhäusern von Genossenschaftsmitgliedern aus den arbeitenden und diesen sozial gleichstehenden Ständen.“ Den Rahmen des neuen Stadtgrundrisses bildeten zunächst die Further Straße, Römerstraße und der Weißenberger Weg. Die Kolpingstraße bildete in diesem Straßennetz die Hauptachse. Mit versetzten Einmündungen zweigen Frankenstraße, Gotenstraße und Kettelerstraße ab. Die Kettelerstraße ist in der Mitte platzartig erweitert und führt auf die Römerstraße. Für die Anlage der geschlossenen bebauten Siedlung im Norden der Stadt Neuss zeichnen verschiedene namhafte Neusser Architekten: Schaumburg, Ingerfeld, Dörner etc.. Die Bebauung begann kurz nach der Jahrhundertwende entlang der bereits bestehenden Straßenzuges der Kolpingstraße. Wie auch aus historischen Karten ersichtlich, ist bis zum Ersten Weltkrieg das Gebiet zwischen Further Straße und Weißenberger Weg weitgehend besiedelt. In den 20er und 30er Jahren wurden noch einige Baulücken geschlossen und die Römerstraße und der Weißenberger Weg bis zum damaligen Römerplatz geschlossen erbaut.
Charakteristik: Das Erscheinungsbild der Siedlung, teilweise durch Kriegseinwirkungen und Umbauten schon verändert, besitzt auch heute noch seine alte Homogenität, die sich in der kleinmaßstäblichen Bebauung und in der Formensprache der Fassaden und der Straßenführung erhalten hat. Besonders gut erhaltene Gebäude bilden die Kolpingstraße Nr. 38 – 56 und die Kettelerstraße 1 – 21 und Nr. 2 – 26 als Kernstück der Siedlung. Den bis zum Ersten Weltkrieg bebauten Bereich prägen Zweifamilienhäuser aus Sichtbackstein und geschlämmten Backsteinen sowie Putzbauten in zweieinhalbgeschossiger Bauweise mit abwechselungsreich gestalteten Giebeln. Die späteren Bauten der 20ger und 30ger Jahre, meist dreigeschossige Mehrfamilienhäuser, sind in Sichtmauerwerk erstellt. Sie bilden den geringeren Bebauungsanteil der Siedlung und zeigen bereits eine Weiterentwicklung in ihrer Formensprache zu mehr Sachlichkeit. Die „Kolpingsiedlung“ ist Ausdruck einer Architekturentwicklung im Bereich der Wohnungsbaugenossenschaften, die seit der Jahrhundertwende auf Grund der Wohnungsnot in den Städten entstand und die eine sozial und ästhetisch stimmige Wohnhausarchitektur zum Ziel hatte. Auf Grund der Forderung preiswerten Wohnraum für die Genossenschaftsmitglieder zu schaffen, entwickelten sich die Planungen unter Berücksichtigung der Sparsamkeit, der konstruktiven Richtigkeit und der Forderung nach einfachen und leicht zu bearbeitenden Materialien. Man griff auf erprobte handwerkliche Bauweisen zurück. Der Erwerbshausbau, der von den Wohnungsbaugenossenschaften betrieben wurde, brachte jedoch auch Probleme mit sich. Auf Grund der Tatsache, dass die Häuser für das Bewohnen durch den Erwerber alleine zu teuer waren, blieb oft nur die Möglichkeit einer Untervermietung. Das Ziel der Funktionsrichtigkeit bestimmte die Anforderung, die an den Grundriß gestellt wurden. Bei einem Vergleich der einzelnen Planungen lässt sich bis auf wenige Ausnahmen ein Standardgrundriß erkennen. Die einzelnen Geschosse, bestehend in der Regel aus ein bis zwei Wohnräumen mit dahintergeschalteter Küche und Balkon, sind durch ein separates Treppenhaus zu erreichen und konnten somit geschoßweise vermietet werden. Die Bauformen, die Details für die Fassadengestaltung, holte man sich in der Phase bis zum Ersten Weltkrieg aus dem bewährten Traditionsbestand bürgerlicher Wohnbauten. Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg ist von einer Entwicklung bestimmt, die bereits schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann (Siehe beispielsweise auch die Siedlung Krupp Altenhof 1 in Essen 1891/93). Sie versuchte die Kriterien Zweckgebundenheit und Sparsamkeit, die bis dahin allein den Genossenschaftsbau bestimmten, mit der Forderung nach Gestaltung zu verbinden. Die blockartige Wirkung der Gebäude sollte vermieden und durch eine vielseitige Formensprache in der Fassade das Einzelgebäude in der geschlossenen Zeile betont werden. Der Auftraggeber, die Wohnungsbaugenossenschaft, bot den Architekten ein Programm mit festgelegten Kriterien: - Kleinhäuser statt Mietkasernen, Verbindung von Individualität und Kollektivität - Abgeschlossene Kleinwohnungen - Berücksichtigung der sparsamen Bauweise - Individualität der Fassade Die Bauten der 20ger und 30ger Jahre, der Blütezeit der Baugenossenschaften, werden bestimmt durch die Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Infolge von Mangel an Baumaterial, Inflation der Baukosten und Kapitalknappheit, war die genossenschaftliche Selbsthilfe der einzige Weg, aus eigener Kraft aus den schlechten Wohnverhältnissen herauszukommen. Das ursprüngliche Ziel der Wohnungsbaugenossenschaft guten Wohnraum zu billigen Mieten für minder bemittelte Bevölkerungskreise herzustellen bleibt bestehen. Es führt jedoch zu einer Änderung in der Formensprache. Die Fassaden werden wieder durch sparsame Gestaltungselemente bestimmt. Das Erscheinungsbild der „Kolpingsiedlung“ wird geprägt durch zwei Hauptkriterien der Forderung nach Funktionalität, dies hat fast einen genormten Grundriß zum Ergebnis und zum anderen der Forderung nach einer ästhetischen Formensprache, die wiederum die Individualität der einzelnen Gebäude im geschlossenen Gesamtkomplex der Siedlung unterstreicht. Die Bedeutung der „Kolpingsiedlung beruht auf ihrem Zeugniswert über die Entwicklung des genossenschaftlichen Arbeiterwohnungsbau im ersten Drittel dieses Jahrhunderts und dokumentiert den Schwerpunkt früher genossenschaftlicher Bautätigkeit in Neuss. Für das öffentliche Interesse an der Erhaltung dieser Siedlung und ihres Erscheinungsbildes bestehen städtebauliche und wissenschaftliche Gründe. Datum: 25.11.1985
Im Auftrag (wiss. Ref. Bauassess. Fannei)
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